Johan August Strindberg gehört zu den umstrittensten Schriftstellern der neueren
Literatur. Leben und Schaffen bilden bei ihm eine unlösbare Einheit, in seltenem
Maße hat er die Probleme der eigenen Entwicklung — den Kampf einer titanischen
Seele mit den dunklen Untergründen einer dämonischen Veranlagung — in seine
Werke hineingetragen. Immer und überall zwingt er zur Stellungnahme, er rüttelt
auf und provoziert Zustimmung oder Ablehnung. In seinem wandlungsreichen Leben,
das im Werke weiterzeugt und immer wieder in neuer Gestalt untergeht, ist jede
Seelenstimmung, von naiver Kinderfrömmigkeit bis zur satanischen Ruhelosigkeit,
jede intellektuelle Geisteshaltung, vom materialistisch gefärbten
Fortschrittsglauben bis zur tiefsten, zersetzenden Skepsis, anzutreffen.
Blasierte Kühle findet sich niemals, über den Dingen stehende Objektivität
selten in seinen Schriften, die immer zugleich Angriff und Verteidigung sind.
Dem Philosophen steht er so ferne wie dem wirklichen großen Dramatiker, der die
uralte Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Notwendigkeit auf die Bühne
stellt. Shakespeares farbige Helligkeit und souveränes Spiel mit den Schicksalen
der Welt und der Menschen blieb ihm fremd und unsympathisch. Noch die
persönlichsten Schöpfungen des großen Briten, seine Sonette, ruhen losgelöst von
allen persönlichen Schicksalen und subjektiven Gefühlen ihres Verfassers in
einer Atmosphäre formvollendeter Verdichtung und Überwirklichkeit, die völlig
nebensächlich erscheinen lässt, wer und was der Freund und die schwarze Dame
gewesen sind. In den historischen Dramen Strindbergs, seinen objektivsten
Kunstwerken, spürt man noch den subjektiven Willen ihres Verfassers, die Absicht
zur Tendenz und zur moralisierenden Propaganda. Ein Streit darüber, wer dieser
Verfasser sein könnte, ist gar nicht denkbar, auch wenn wir die lange Reihe der
biographischen Schriften nicht hätten, die in so seltsamer, einmaliger Weise,
anziehend und abstoßend zugleich, Dichtung und Wahrheit mischen.
Deshalb ist auch Strindberg gerade heute wieder aktuell, so wie Nietzsche
aktuell geworden ist, seitdem die moderne Zivilisation in ihre kritische Epoche
eingetreten ist, die von den einen als Wachstumskrise, von den andern als
Symptom des nahenden Untergangs betrachtet wird. Zwar hat sich der moderne
Theaterbetrieb scheu von der Gestalt, den Problemen und Stücken des großen
Schweden zurückgezogen, seine Bücher werden wenig mehr gekauft, und seine
Auffassungen und seelischen Konflikte sind in die Fachliteratur der Psychiater
und Psychoanalytiker abgewandert, die den Großteil seiner dichterischen
Produktion nur noch als Krankheitsgeschichte werten. Aber man kommt auch dem
Problem Strindberg mit der gehirnärztlichen oder Komplex befangenen Betrachtung
so wenig endgültig bei wie den Quellen der Kunst eines Hölderlin, Lenau oder Van
Gogh, so wichtiges untergeordnetes Material auch die Krankheitsgeschichte
beibringen kann. Denn entscheidend bei all diesen Untersuchungen, die letzten
Endes die Geistesgeschichte der Menschheit in eine fortlaufende
Krankheitsgeschichte umwandeln, ist immer: weshalb und womit die künstlerische
Produktion und der ringende Geist mit der Krankheit fertig geworden sind und sie
überwunden haben. Der Unterschied zwischen Genie und Wahnsinn besteht
hauptsächlich darin, dass das Genie den gesellschaftlichen Wertmaßstab für seine
Produktion nie verliert, es ist die „große Gesundheit” Nietzsches in der
Zarathustraperiode, die den letzten Sieg der gestaltenden über die zerstörenden
Kräfte davontrug, erst dann kam der Zusammenbruch und mit ihm das völlige
Erlöschen der Produktivität. Zweifellos war auch der Strindberg der
Inferno-Periode dem Zusammenbruch sehr nahe, aber dass das Genie in ihm seinen
eigenen Wahnsinn beobachtete und besiegte, ist die entscheidende Bedeutung und
wichtigste Tatsache aus dieser Zeit.
Zu einer klaren Beurteilung Strindbergs und seines Schaffens ist notwendig, dass
man ihn von seiner stärksten Kraft aus betrachtet: der Phantasie. Strindberg war
ein Dichter, obwohl er auch auf wissenschaftlichem Gebiete sehr wertvolle
Entdeckungen machte und Zusammenhänge fand, die in ihrem Wesen inzwischen durch
die Forschung bestätigt und Allgemeingut geworden sind — aber auch auf dem
wissenschaftlichen Gebiet war es die zusammenschauende Phantasie, die ihn zu
Ergebnissen kommen ließ, allerdings auch in manche Sackgasse führte.
Der Dichter in Strindberg hat die Menschen so geschildert, wie er sie sehen
musste — wie sie wirklich waren, ist daneben völlig gleichgültig. Alles Zeichnen
besteht in Verkürzen, Weglassen und Verstärken — die Dichtung auch. Man wird dem
Dichter Strindberg erst völlig gerecht werden, wenn man auch seine angeblich
biographischen Schriften uneingeschränkt unter die Dichtungen einreiht, sie sind
Romane, zu denen das Leben ebenso den Stoff und die Phantasie die Beleuchtung
geliefert hat wie bei jedem andern Roman.
Wenn man also die Frage, ob dies wirklich so und nicht anders gewesen sei, ob
die Baronin wirklich so leichtsinnig und seine zweite Frau so oberflächlich
gewesen sei, völlig ausschaltet, dann bleibt vor allem eine wesentliche
Feststellung übrig: August Strindberg hat unser Wissen um die menschliche Seele,
das menschliche Gefühlsleben, die inneren Widersprüche und Abgründe des
menschlichen Charakters gewaltig erweitert. Dieselbe Psychologie, die über
Männer wie Nietzsche und Strindberg manchmal sehr hausbackene Urteile gesprochen
hat, wäre ohne das Schaffen dieser Entdecker unbekannter Züge der menschlichen
Psyche gar nicht zu denken.
Ungerecht gegen den einzelnen Menschen ist Strindberg nur zu oft. Es ist
manchmal grotesk, wie er einzelne Gestalten verzerrt. Er hat oft kein Maß, weder
im Guten noch im Bösen. Wie er in „Nach Damaskus” die einzelnen Mitspieler
zeichnet und aus braven, gleichgültigen, kleinlichen und in den üblichen
Vorurteilen befangenen Bürgern und Bürgerinnen Ungeheuer und phantastische
Gnomen schneidert, ist von unerhörter Kühnheit und Brutalität. Man hat in diesem
Werk mit Vorliebe eine religiöse Bekenntnisschrift gesehen: es ist etwas ganz
anderes. Es ist eine der bittersten und hellsichtigsten Satiren auf die
Menschheit, ihre heiligsten Gefühle, Illusionen und Institutionen, die die
Weltliteratur kennt, Religion und Kirche eingeschlossen. Das Bankett im zweiten
Teil ist von grandioser Wucht, die Läuterung am Schluss bleibt durchaus
fragwürdig, und nur naive Gemüter können darin eine wirkliche Bekehrung sehen.
Er wollte schon, allein er konnte nicht. Der schöpferische Genius, nach langem
Schlummer wieder erwacht, bestrahlte noch den Kalvarienberg, den ein Halt
suchender Mensch emporstieg, mit seinem hellen Licht.
Strindbergs Einstellung zum anderen Geschlecht ist manchmal abstoßend und
niemals harmonisch. Hier liegt die Achillesferse seines Lebens wie seiner Kunst.
Oft fehlt es ihm am nötigen Distanzgefühl, er gibt sich nicht nur hin, sondern
sogar auf; dann erschrickt er und schafft gewaltsam die Distanz, die sich sofort
zur breiten Kluft erweitert. Aber gerade diese innere Unsicherheit hat ihn
hellsichtig gemacht. Keiner hat so wie er daran mitgewirkt, die konventionelle
und traditionelle Lüge aus den Beziehungen der Ge-schlechter, dem Verhältnis von
Mann und Frau, aus der Ehe und dem Verhältnis von Eltern und Kindern
auszumerzen. Dabei kam er selbst aus den Fesseln von Tradition und Konvention
niemals heraus. Er rebellierte gegen die Macht des Herkömmlichen in sich selbst
und um sich herum, als Mensch blieb er ihr Gefangener, als Künstler entlarvte er
sie.
August Strindberg war einer der größten Denunzianten der Geschichte. Er hat die
faulen Stellen des öffentlichen wie privaten Lebens aufgespürt und angezeigt —
auch dort und vor allem dort, wo er sie in sich selbst wuchern spürte. Er hatte
den Mut, Dinge laut zu sagen, über die man bis dahin nur geflüstert hatte. Das
wirkte häufig peinlich, Aufsehen erregend, abstoßend, fast sadistisch. Aber es
wirkte. Der überhelle und scharfe Beobachter in ihm konnte sich selbst mit
gefühlloser Neugier betrachten und schildern, so erbarmungslos wie die
Mitmenschen, und als Künstler kannte er das große Grundgesetz jeder Wirkung in
die Weite und Tiefe hin: die Wahrheit liegt im Extrem.
August Strindberg ist auf dem Friedhof Norra Begravningsplatsen in der
Gemeinde Solna nördlich von Stockholm begraben. Seine Grabnummer lautet Bezirk
13A, Nr. 101.
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